Erzähl mir dein Leben!
Es passiert mir dauernd: Ich treffe auf wildfremde Menschen und sie fassen sofort zu mir Vertrauen und erzählen mir ihre Probleme. Wie komme ich darauf?
Ich bin gerade mit dem Zug in Baden-Baden angekommen, da hier hete abend ein Pressetermin ansteht. Ich steige ins nächstbeste Taxi (wobei man sagen muss, die Taxis in Baden-Baden sind echt schick, schwarz nämlich) und bemerke gegenüber dem Taxifahrer wie schön doch die Sonne lache. Daraufhin beginnt er über den im Gang befindlichen Frühling zu plaudern und kommt dadurch auf seine Frau zu sprechen, die seit einem Jahr mit der Diagnose MS leben muss und etwas den Lebensmut verloren hat. In meinem Gesicht stehen Fragezeichen, wie der Mann nun darauf kommt, mir dies zu erzählen, doch höflich wie ich bin, frage ich nach, wie es der Frau denn geht (die er im übrigen Mutti nennt ohne Worte). Dies löst eine weitere Gesprächswelle seinerseits aus, in der er mir erzählt, wie sie die Diagnose erfahren haben, wie sehr er seien Frau liebt, dass er alles für sie tut, dass er nicht lügen kann und wie sie damals in der Schwangerschaft schon so sensibel war. (???) Wir kommen im Hotel an und in der zirka zehnminütigen Autofahrt habe ich so einiges über den freundlichen Herrn erfahren. Sie nennt ihn Papi, er kann nicht lügen, sie macht den Haushalt und wenn es zu viel für sie ist hilft er, sie haben drei Kinder und in eine Selbsthilfegruppe möchte sie nicht. Beim Aussteigen entschuldigt er sich, dass er mich so zugetextet habe (wirklich sein Wortlaut!), aber ich winke ab und sage, es gäbe nichts zu entschuldigen. Stimmt ja auch.
Ich habe den Eindruck, es ist ihm etwas unangenehm und er weiß selber nicht, warum es so aus ihm rausgesprudelt ist. Ich weiß es auch nicht. Aber es passiert mir wirklich ständig. Damit ich mir nicht weiter den Kopf zerbreche, gehe ich einfach davon aus, dass die Menschen aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund schnell Vertrauen zu mir fassen und sich sicher fühlen. Und das nehm ich einfach mal als Kompliment. Und hör mir weiter eure Geschichten an.
Ja, mir geht es auch so wie du erzählst.
Ich würde in dem Moment nicht von Vertrauen reden – weil für mich Vertrauen etwas ist, was mit der Zeit wächst -, sondern von Sicherheit: die Menschen fühlen sich sicher und frei, ihren Gedanken die Materiellität des Lautes zu geben. Die Relevanz des Sprechens, des Raussprechens kann man nie genug herausheben. Aber ja, mir geht es auch so, und ich weiß auch nicht warum, Menschen sich mir gegenüber bis zur Schamlosigkeit öffnen. Vielleicht verspüren sie, dass ich sie ernst nehme und mit anderen Menschen nie darüber reden würde. Aber dieses Geschenkt, was ich oft von unbekannten Menschen bekomme – und mich mit Freude erfüllt – hat einen Preis, und das ist die Distanz. Denn dieses Phänomen der spontanen Offenheit ist nicht mit Intimität zu verwechseln: wenn eine Freundin mir ihr Herz und Sorgen offenbart, weiß ich, dass auch der Freundschaft eine Grenze gesetzt wird, die nicht überrschritten werden darf. Daraus lerne ich, dass wenn ich mit jemandem Vertrauen und Intimität aufbauen will, ich sehr sorgfältig mit meinen inneren Beweggründen umgehen muss. Kein Wunder, dass ich mich auch nur Menschen gegenüber öffne, mit welchen ich auch bereit bin, diese gewisse Distanz nicht zu überschreitten, oder wo diese Distanz aus äußeren Gründen gegeben ist.
Fazit: ich habe für mich den Schritt gewagt – ehrenamtlich -Familienberater zu werden, um anderen Menschen, die dieses Potenzial nutzen oder erkennen mögen, eine Unterstützung anzubieten.
Fazit: ich kenne dich nicht, aber irgendwie glaube ich kaum, dass ich Hemmungen hätte, dir meine Geschichten zu erzählen.
Danke für die Anregungen / @lingoas
Schön zu lesen, dass es anderen auch so geht. Ich denke, der Preis dafür ist, dass man selber nicht reden kann, in dem Sinne, dass man ja erst mal nur Zuhörer ist. Der andere braucht das gerade, reden zu können und man bietet ihm das was er braucht. Aber wer hört dann den Zuhörern zu?
Die Zuhörer, per se, sprechen wenig, geben meistens nur Stichwörter, um den Redenden zu helfen, den Faden oder die Nerven nicht zu verlieren. Man spricht zu den „Zuhörern“ auch, weil sie die Kunst beherrschen (sollen), für sich Geheimnisse zu behalten, aber nicht nur fremde Geheimnisse, auch eigene. Die Zuhörer die ich kenne, so ich selber, reden öfters in Rätseln.
Wer hört den Zuhörens zu? > Leute, die nicht merken, dass sie zuhören.
Ich zumindest suche mir aber häufig nicht aus, der Zuhörer zu sein, sondern werde von meinem Gegenüber dazu gemacht. Manchmal sage ich dann kaum was, weil ich dann eigentlich nur überlege, was gerade passiert und warum ich schon wieder in eine solche Situation geraten bin. Wenn es mir zu dem Zeitpunkt selber nicht so gut geht, macht mich das manchmal richtig wütend. Denn viele Erzähler nehmen darauf keine Rücksicht. Sie handeln sozusagen rein egoitisch und fragen nicht nach mir.
Ja, es ist ungerecht, sehr sogar. Denn man verteilt nicht zugleich die Freuden und die Trauer. Und den guten Menschen wird sowieso viel zu viel fremdes Leiden aufgetragen, als wäre das ihre stille Berufung. Ja, Erzähl mir dein Leben, aber vergesse nicht, mir die guten Seiten zu erzählen, das würde mir passen. Und das sollte ich mir selbst merken, denn, wenn ich, der es besser wissen sollte, in die eigene Falle falle und selbst anderen Menschen nur von meinen Belastungen erzähle, finde ich das nicht nur doppelt ungerecht, sondern blöd außerdem.